„ihm war, als ob er tausend Stäbe sähe und hinter tausend Stäben keine Welt...“

28.04.2010

Grit Poppe las mit einer Zeitzeugin Kerstin Kuzia am 24. April in Hötensleben aus ihrem Roman „Weggesperrt“.

Einen bewegenden Nachmittag ließen sich alle die entgehen, die nicht zu der Veranstaltung kamen. Es herrschte eine Stille im Raum, in dem das Herabfallen einer Nadel für Lärm gesorgt hätte. Diese Stille entstand durch Bestürzung und aus dem Entsetzen über das Gehörte. Wozu eine Diktatur in der Lage war, um Menschen gefügig zu machen, in dem Fall sogar noch Kinder, war der Auslöser. Für Medienaufsehen sorgen momentan die Berichte aus Heimen der katholischen Kirche, aber es geht noch schlimmer. Wenn allein das Aufrufen des eigenen Namens in Angst und Schrecken versetzen, dann waren sie angekommen, die die eigentlich noch Wärme und Geborgenheit brauchten, sie waren angekommen in Torgau.

Wer zu DDR-Zeiten nicht in das Bild einer entwickelten sozialistischen Persönlichkeit passte, hatte es nicht leicht. Junge Menschen, die nicht in dieses Bild passten, wurden eben auch weggesperrt. Es war möglich, Jugendliche ohne jedes Gerichtsurteil in einen Jugendwerkhof zu sperren.

In ihrem Buch schildert Grit Poppe auf dramatische Weise, was diese Jugendlichen zu erwarten hatten. Eine sogenannte sozialistische Umerziehung unter humanistischen Gesichtspunkten sollte stattfinden. Doch die Realität ist eine Andere.

Sprechverbot, Einzelarrest, Gruppenstrafen, Kontaktsperren, Akkordarbeit und militärischer Drill waren die Mittel, um die jungen Seelen zu brechen. Dazu kam die Willkür der Erzieher. In einer Rezension war von „zertretenen Seelen“ die Rede und diese Metapher bringt es am besten zum Ausdruck. Heute wird aktuell von einem menschenunwürdigen Guantanamo gesprochen, doch kommt der geschlossene Jugendwerkhof in Torgau den Verhältnissen gleich. Klar sind es zwei völlig verschiedene Ursachen, die zu diesen Gefängnissen führten, jedoch wurden in beiden, die Menschen mit System völlig entwürdigt. Eine vollständige Unterwerfung lies die Frage nach dem Warum irgendwann verstummen. Die Weggesperrten stellten sich zurecht die Fragen: Warum, Weshalb und Was habe ich getan?

So auch Anja, die wir mit Gritt Poppe auf ihrem Leidensweg begleiten. Nachdem Anjas Mutter einen Ausreiseantrag stellt, kommt die 14-jährige in den Jugendwerkhof. Ein Augendblick, in dem sie sich nach Seelenqualen der Erzieher völlig die Kontrolle über sich verliert und ausrastet, bringt ihr Torgau ein.

Ein Gedichtband von Rilke hält Anja geistig am Leben: „ihm war, als ob er tausend Stäbe sähe und hinter tausend Stäben keine Welt...“. Sie wird mit Gedichtsband erwischt und er wird ihr abgenommen mit der Bemerkung, dass es faschistische Schundliteratur sei. Der schwarze Panther aus dem Buch wurde zur fiktiven Gestalt, an die sich Anja klammerte.

Als Leser wird man gefesselt von dem Roman. Am liebsten möchte der Leser einschreiten und Anja zur Hilfe kommen. Eine sehr nahe gehende Schilderung der Zustände. Dabei wirkt alles nicht anklagend und larmoyant sondern real. So real, wie der real existierende Sozialismus existierte.

Anja, der auf dramatische Weise die Flucht aus Torgau gelingt, hat Glück, denn wir haben das Jahr 1989 und sie taucht in der alternativen Szene von Leipzig unter. Sie kommt nicht klar mit der Offenheit, mit der sich hier unterhalten wird, denn sie kam fast als gebrochener Mensch aus Torgau. Dort hat sie sich durch den Drill, Widerworte oder gar Kritik abgewöhnt, genau so wie eine sozialistische Persönlichkeit sein sollte. Schön wird hier noch einmal, die Stimmung in Leipzig zur Zeit der Wende reflektiert.

Ein Happyend und eine kleine Liebesgeschichte runden den sehr gelungen Roman ab.

Die Fragen der folgenden Diskussion wurden in erster Linie von Kerstin Kuzia beantwortet. Sie wies darauf hin, dass dieser Roman sehr authentisch ist. Selbst wissenschaftliche Publikationen, sind nicht so authentisch. Frau Kuzia erzählte von ihrem Leben oder besser Dasein in Torgau, den heute noch anhaltenden posttraumatischen psychischen und physischen Problemen. Viele der Insassen verdrängen heute aus Angst und aus Scham das Geschehene, doch wenn es aufbricht, kann nur mit intensiver ärztlicher Unterstützung geholfen werden. Sie erzählte von den Bestrafungen und der Willkür der Erzieher, von Schockarrest, Sprechverbot (es herrschte komplettes Sprechverbot), militärischem Drill, Strafsport, schamlosen und peinlichen Desinfektionsprozeduren, der entwürdigenden Unterbringung. Das Schlimmste war aber, wenn der eigene Name aufgerufen wurde, denn der wurde nur bei Bestrafungen aufgerufen, sonst war sie nur eine Nummer. Bestraft wurden die Kinder auch dafür, dass sie den Belastungen nicht stand hielten und zusammenbrachen. Diese Bestrafungen, jetzt abgesehen vom Arrest, waren Gruppenstrafen. Danach folgte nämlich die härteste Strafe. Die Gruppe bestrafte abends für die Strafe noch einmal den Sünder. Die Aufseher schauten weg, die Gruppe schlug und prügelte, drückte den Kopf ihres Opfers in einen Eimer von Fäkalien und es wurde gefoltert, zum Beispiel mit Metallfedern aus Matratzen. Sie berichtete von den Suiziden und Suizidversuchen, die nicht ausblieben. Ständig war der Gedanke da, sich das Leben zu nehmen. Selbstverstümmelungen oder selbst inszenierte Verletzungen mit dem Ziel ins Krankenhaus zu kommen, nur raus aus dieser Hölle, waren Gang und Gebe.

Es war schwer für die Zuhörer, das Gehörte zu verarbeiten. Am siebenten November 1989 versuchte die noch DDR-Regierung innerhalb von drei Tagen die baulichen Beweise zu vernichten. Es gelang ihr nicht komplett, aber leider teilweise. Menschen wie Frau Kuzia ist es zu verdanken, dass das Geschehene nicht in Vergessenheit gerät. Die Schuldigen wurden nicht oder kaum bestraft, im Gegenteil sie sitzen heute wieder in hohen Positionen zum Beispiel als Leiterin eines Altersheims, aber so darf nie wieder mit Kindern umgegangen werden. Frau Kuzia beteiligt sich auch mit eigenen Erfahrungen an der Opferhilfe und mit Zeitzeugengesprächen an der Aufklärung gegen eine Verklärung der Geschehnisse (kerstinkuzia.jimdo.com).

Es war eine sehr bewegende Veranstaltung, die keiner der Anwesenden vergisst, darum ist es wichtig, dass Frau Kuzia auch ein breites Publikum erreicht, damit das Vergessen nie eintritt.

Wenn Sie an Ihrer Schule oder in Ihrer Buchhandlung selbst eine Lesung organisieren möchten, helfen wir Ihnen auch gern weiter (www.grenzdenkmal.com).

 

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